Kategorien
Film und Buch

Madame Sidonie in Japan

Die Geister, die sie losließ
„Madame Sidonie in Japan“
 von Élise Girard

„Are you a writer?“, fragt der Beamte am Flughafen, worauf die einst international gefeierte französische Schriftstellerin Sidonie Perceval (Isabelle Huppert) „Yes and no“ antwortet. Sidonie hat schon lange nichts mehr geschrieben. Seit dem Unfalltod ihres Mannes Antoine (August Diehl) lähmt sie eine Schreibblockade, die einhergeht mit einer Depression. Sidonie fühlt sich leer und antriebslos, zumal Antoine derjenige war, der im ehelichen Alltag die Dinge geregelt hat. Ohne ihn scheint Sidonie fast lebensunfähig zu sein. Als die Einladung ihres japanischen Verlegers Kenzo (Tsuyoshi Ihara) zu einer Lesereise durch Japan eintrifft, lehnt sie also zunächst ab. Zu schwach fühlt sie sich, um eine so lange Reise alleine anzutreten. Doch dass ihr Erstlingswerk nach fast vier Jahrzehnten in Japan eine Neuauflage genießt, kitzelt doch an ihrem Schriftstellerinnen-Stolz. Als Freunde sie drängen und der Verleger zudem verspricht, sie müsse sich um nichts kümmern, nimmt Sidonie die Einladung an.

In Japan angekommen wird sie mit den üblichen im Kino gern gezeigten Bildern und Situationen – und auch immer wieder mit Antoines Geist – konfrontiert. Wann verbeugt man sich wie lange vor wem? Wer steigt zuerst in ein Fahrzeug? Warum sind Hotelfenster immer verriegelt? Und wie geht man mit den allgegenwärtigen Geistern um? Natürlich bewundert Sidonie die Kirschblüten, die Schreine und Tempel, die sanften Nebelschwaden, die vom Wasser hochsteigen und sich um die Hügel legen. Regisseurin Girard bedient sich vieler der üblichen Japanbilder. Doch diese Klischees unterfüttern hier keine Culture-Clash-Komödie, auch wenn dem Publikum hier und da ein Schmunzeln entlockt wird, zum Beispiel wenn Antoines Geist oft im falschen Moment auftaucht. In diesem poetischen, einfühlsamen Film geht es weniger um kulturelle Unterschiede, sondern vielmehr um Gefühle wie Trauer, Verlust und Selbsthinterfragung. Sowie um die Fragen, die sich Menschen ab einem bestimmten Alter immer häufiger stellen, wenn sie auf ihr Leben zurückblicken – egal ob in Europa oder in Japan. Während Sidonie nach dem Tod ihres Mannes völlig aufgelöst ist und in eine Depression zu fallen droht, geht Kenzo, der eine ähnliche Verlusterfahrung erlebt hat, anders damit um. Hier spielen asiatische Spiritualität und der Umgang seiner Kultur mit dem Tod eine entscheidende Rolle.

Die ersten Taxifahrten zu den Lesungen finden fast schweigend statt. Überhaupt wird wenig geredet in diesem Film. Doch mit jeder Fahrt erzählen sich Autorin und Verleger mehr, lernen die jeweils andere Kultur, sich selbst und den anderen Stück für Stück besser kennen. Was kann noch werden, wenn man sich öffnet? Wenn man sich nicht mehr so verloren fühlt? Es sind wunderschöne, ruhige Bilder ohne viele Worte, mit denen Élise Girard diese Geschichte über das Älterwerden erzählt. Um Leidenschaft darzustellen, braucht es keine zerwühlten Bettlaken. Es reichen manchmal nur zwei Hände, die sich auf einer Taxirückbank peu à peu immer näherkommen, um sich am Ende zu berühren. auch hier zu lesen

Frankreich, Deutschland, Japan, Schweiz 2023, Laufzeit: 95 Min.
Regie: Élise Girard
Darsteller: Isabelle Huppert, Tsuyoshi Ihara, August Diehl
>> www.madamesidonieinjapan.de/

Kategorien
Familie-Erziehung-Beziehung

Über Freundschaft

Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt”, sangen die Drei von der Tankstelle Anno 1930. Und drückten damit etwas ganz Elementares aus. Es gibt nur wenige Menschen, die auf Dauer ein glückliches Eremiten-Dasein führen können. Chronische Einsamkeit ist sogar ungesund. Deshalb brauchen wir Freunde. Gute Freundschaften bereichern unser Leben. Doch wer ist ein guter Freund oder eine gute Freundin? Und wo finden wir diese Person?

Im Kindesalter ist es leicht, Freundschaften zu schließen. Unsere Freund:innen sind die Kinder, mit denen wir im Sandkasten buddeln, die neben uns im Klassenzimmer sitzen oder die in derselben Sportgruppe sind. Diese Freundschaften sind schnell geschlossen – und genauso schnell beendet. Heute allerbeste Freundin; morgen total blöde Kuh.  Es gibt durchaus Sandkasten-Freundschaften, die bis ins Erwachsenenalter halten – doch die sind eher die Ausnahme. Denn mit zunehmendem Alter reicht das „gemeinsame Buddeln“ nicht mehr aus. Erwachsene Freundschaften setzen eine gegenseitige Selbstoffenbarung und Vertrauen voraus. Das macht es deutlich schwerer gute Freunde zu finden. Zumal die Begegnungsräume und Zufallsgelegenheiten Menschen kennen zu lernen mit zunehmendem Alter auch weniger werden. Seit Corona finden z.B. viele Meetings und Tagungen online statt, und viele Menschen meiden heutzutage Orte von Menschenansammlungen.  Auch lange vor der Pandemie suchten Menschen online nach Freundschaften und Kontakte. Manche haben über tausend Freunde auf Facebook und hunderte von Followern auf Insta. Doch von einer wahren Freundschaft kann bei Followern nicht die Rede sein. Online zeigen die wenigsten ein ehrliches Bild von sich. Gezeigt wird das Ideal-Ich, das spannende Dinge tut. Fotos und Videos werden mit Filtern bearbeitet, um den „Freunden“ das perfekte Leben zu zeigen. Dabei sind wahre Freunde Menschen, die uns so nehmen, wie wir sind. Ohne Filter. Wir müssen uns nicht verstellen, können uns mit all unseren Schwächen zeigen. Mit Freunden teilen wir Freud und Leid. Echte Freunde sind füreinander da.  „I’ll be there for you“ (The Rembrandts) lautet der Titelsong einer der erfolgreichsten Sitcoms im US-Fernsehen, die Serie „Friends“, die 10 Jahre lang ausgestrahlt wurde und den Alltag im Leben von sechs Freund:innen  zeigte. hier geht’s weiter: https://www.choices.de/durch-dick-und-duenn-thema-0624

Kategorien
Film und Buch

Die Gleichung ihres Lebens

Die Liebesformel
„Die Gleichung ihres Lebens“
 von Anna Novion

Die Goldbachsche Vermutung ist eines der bekanntesten ungelösten Hilbertschen Probleme der Mathematik. Sagt Ihnen nichts? Seit über 280 Jahren beißen sich Mathematiker die Zähne an diesem Problem der Zahlentheorie aus. Da Goldbachs Vermutung bis heute weder bewiesen noch widerlegt ist, verbringen sie viel Zeit damit, endlich einen allgemeingültigen Beweis zu erbringen. Wie die Protagonistin in diesem Film. Um Zahlen und Formeln dreht sich das ganze Leben von Marguerite (Ella Rumpf), einer jungen Doktorandin an der renommierten École Nationale Superieure in Paris, die gemeinsam mit ihrem Professor an der Goldbachschen Vermutung arbeitet.

Der Professor (für diese Rolle holte Anna Novion erneut Jean-Pierre Darroussan vor die Kamera, der schon in ihrem ersten Langfilm „Wir sind alle erwachsen“ einen etwas trockenen Wissenschaftler spielte) sieht eine glänzende Zukunft in der Forschung für Marguerite. Doch völlig unerwartet schmeißt diese ihre Promotion hin, nachdem sie von Lucas (Julien Frison), einem neuen Doktoranden in der Mathe-Fakultät, während der Präsentation ihrer Dissertation vor versammelten Kollegen vorgeführt wird. Mit Mathe will Marguerite nichts mehr zu tun haben. Doch die durch und durch logisch denkende Mathematikerin in ihr macht es ihr schwer, in der oftmals unlogischen Welt außerhalb der heiligen Hallen der Wissenschaft klarzukommen. Kläglich scheitern daher ihre Versuche als Schuhverkäuferin oder Mitarbeiterin eines Meinungsforschungsinstituts. Als sie Noa (Sonia Bonny) kennenlernt, zu der sie ins Chinesische Viertel zieht, tut sich nicht nur eine viel lukrativere Verdienstmöglichkeit, sondern auch eine völlig neue Welt auf. Beim illegalen Mahjong-Spiel ist die Mathematikerin unschlagbar. Beim Clubbing, Flirten oder Daten jedoch völlig steif und unbeholfen. Hier zeigt Novion, die auch das Drehbuch schrieb, die zwei Seiten einer jungen Frau, die einerseits wie eine Superheldin außergewöhnliche Rechenfähigkeiten hat und souverän beim MahJong ihren Gegenspielern begegnet, und sich andererseits ängstlich-roboterhaft in der ihr völlig fremden Welt bewegt. auf choices.de weiter lesen

Frankreich, Schweiz 2023, Laufzeit: 114 Min., FSK 12
Regie: Anna Novion
Darsteller: Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Clotilde Courau
>> weltkino.de/filme/die-gleichung-ihres-lebens