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Baghdad in my Shadow

Der neue Film des irakischen Filmemachers Samir vereint viele Themen, die mit geflüchteten Menschen, die in der Diaspora leben, verbunden werden: eine unterdrückte Frau, die in die Fremde flieht, um ihre Freiheit zu finden, ein schwuler Mann, der nur im Exil seine Homosexualität ausleben kann, ein Jugendlicher, der in einer weltoffenen Stadt wie London lebt, und sich dennoch muslimisch radikalisiert.

In dem kleinen Café Abu Nawas des kurdischen Aktivisten Zeki versammeln sich in London lebende Exil-Irakis. Der Café-Besitzer und seine Frau bieten so etwas wie ein Stück Heimat in der Fremde. Während auf dem Fernseher alte Musikvideos aus der Heimat flimmern, treffen sich hier unterschiedliche Menschen um zu diskutieren, Zeitung zu lesen, Tee zu trinken, Feste zu Feiern. Was sie verbindet ist die schmerzliche Erinnerung an eine gemeinsame, verlorene Heimat.  Zu den Stammgästen gehört der Dichter Taufiq (Haytham Abdulrazaq), der nun als Nachtwächter in einem Museum arbeitet. Er kümmert sich um die Witwe  seines im Irak ermordeten Bruders und um seinen Neffen Nasseer (Shervin Alenabi). Taufiq schätzt die Freiheit der Demokratie. Gleichzeitig versucht er Kultur und Sprache der alten Heimat lebendig zu halten indem er weiterhin seine Gedichte schreibt. Seinem Neffen versucht er beizubringen, beides zu schätzen. Doch Nasseer gerät immer mehr unter dem Einfluss eines islamistischen Predigers, der in der örtlichen Moschee junge Männer indoktriniert und Hass gegen Schwule, Ungläubige und den westlichen Lebensstil schürt. Auch Muhanad (Waseem Abbas) ist regelmäßiger Gast im Café. Der junge IT-Nerd kann in London, anders als in Baghdad, seine Homosexualität offen ausleben.  Trotzdem sträubt er sich, seinen Freund im Café vorzustellen. Die Architektin Amal (Zahraa Ghandour) ist mit falschen Papieren vor ihrem ihrem gewalttätigen Ex-Mann (Ali Daeem) aus dem Irak geflüchtet. Nun arbeitet sie als Kellnerin im Café und freut sich über ein Leben in Freiheit und ein neues Glück, das sich langsam anbahnt. Doch dann taucht eines Tages ihr Ex-Mann Ahmed Kamal im Café auf. Er ist der neue  Kulturattaché seiner Botschaft, genießt Diplomatenstatus und hält nichts von freiheitlich demokratischen Werten.

Die Erzählung wechselt zwischen bedrückenden Verhörszenen auf einem Londoner Polizeirevier und Ausgelassenheit im Café. Die Geschichte wird nicht linear erzählt sondern springt vor und zurück. Es ist etwas schreckliches passiert, doch der Zuschauer ahnt nur allmählich, was das ist.  Die Exilanten leben nun in einer offenen, multikulturellen Stadt, was deutlich wird, wenn die Kamera durch Straßen und Stadtviertel, an einem Waschsalon namens Colorful, an Frauen mit Kopftuch, an Menschen mit vielen unterschiedlichen Hautfarben, vorbei schweift. Doch in einem freien Land zu leben heißt nicht unbedingt in Freiheit zu leben.  Freiheit kann auch  überfordern, was Samir an der Figur Nasseers verdeutlicht, und die langen Arme diktatorischer Regimes reichen manchmal auch bis ins Exil und lassen die Freiheit manchmal an einem seidenen Faden hängen, wie Amals Figur zeigt.

Samir spricht viele gesellschaftliche und politische Themen an – Religionsfreiheit, Gendergerechtigkeit, Frauenrechte, Kulturpflege. Sein Film ist ein Plädoyer für Freiheit, für demokratische Werte und für ein Zusammenleben in gegenseitiger Toleranz.

Regie: Samir, Drehbuch: Samir, Furat al Jamil, Mit: Haytham Abdulrazaq, Shervin Alenabi, Waseem Abbas, Ali Daeem, Kerry Fox, Hazel O’Connor u.v.a.

Kinostart: 30. September 2021

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Film und Buch

Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich

Yaa Gyasis zweiter Roman ist die Geschichte einer Einwandererfamilie in den USA, ein Roman über die vielen Hürden, die Migranten aus Afrika überwinden müssen, um in der neuen Heimat anzukommen, aber auch ein Roman über Religion, über Glauben und Wissenschaft. Und ein Roman über Liebe, die Liebe zur Familie, die Liebe zur Heimat.

Die Familie ihrer Protagonistin Gifty stammt, wie die Autorin auch, aus Ghana und lebt nun in Alabama. Gifty selbst ist in den USA geboren, eine Amerikanerin also, ihr älterer Bruder Nana ist als Kleinkind mit der Mutter nach Amerika gekommen. Die Mutter ist anfangs alleinerziehend – der Vater kommt erst später nach – und sie wird es später wieder. Denn ihr Mann hält das Leben als Migrant nicht aus und nach ein paar Jahren gemeinsamen Familienlebens verlässt er die Familie und kehrt nach Ghana zurück. Die Mutter, tief verletzt, entdeckt danach eine Baptistengemeinde für sich und führt fortan nur noch ein Leben zwischen Arbeit und Religion. Den Weggang des Vaters hat Nana, das ältere Kind, genauso wenig verkraftet wie die Mutter, und er kompensiert mit Sport – und Drogen. Im Alter von 17 Jahren stirbt er an einer Überdosis Heroin. Die Mutter zieht sich danach immer mehr in ihre religiöse Welt bzw. in eine Depression zurück.

Gifty wird zu ihrer Tante nach Ghana geschickt, als die Mutter in eine Klinik kommt. Dort besucht sie mit der Tante einen belebten Markt in Kumasi, als ein abɔdam – ein „Verrückter“- an ihnen vorbeiläuft. Das Mädchen, in den USA sozialisiert und zum ersten Mal in Ghana, starrt diesem Mann hinterher. Mit dem stimmt doch offensichtlich etwas nicht, denkt sie. Doch er wird nicht weiter von den Menschen beachtet. Sein seltsames Verhalten scheint niemandem zu stören. Mit dieser Erinnerung beginnt der Roman.

 

Jahre später, Gifty ist inzwischen Doktorandin und lebt nicht mehr in den einschränkenden Südstaaten sondern im weltoffenen Kalifornien, wo sie an der illustren Stanford School of Medicine im Fachbereich Neurowissenschaften das Belohnungsverhalten von Mäusen sowie die neuronalen Schaltkreise von Depression und Sucht untersucht, erinnert sie sich immer wieder an diese seltsame Begegnung auf dem Markt. Ihre depressive und selbstmordgefährdete Mutter lebt mittlerweile bei ihr und verlässt das Bett nicht. Gifty ist entschlossen, die wissenschaftliche Grundlage für das Leiden, das ihren Bruder in die Sucht und die Mutter in die Depression geführt hat, zu ergründen.

Dabei wird sie immer wieder mit der Religion und dem Glauben ihrer Mutter konfrontiert und ihr wird klar, dass psychische Erkrankungen ein kulturell geprägtes Phänomen sind, von denen verschiedene Kulturen ganz eigene Vorstellung haben. Was als Krankheit gilt und wie Heilung aussieht sind in Ghana und den USA sehr unterschiedlich. In der Twi Sprache, der Sprache, die in Kumasi gesprochen wird, wo ihre Mutter vor Amerika lebte, gibt es bis heute kein Wort für Depression, wohingegen in der westlichen Kultur Depression zur Liste der häufigen Krankheiten gehört. Die vorherrschende Überzeugung in Ghana ist immer noch, dass psychische Krankheiten eine Vergeltungsmaßnahme der Ahnen oder eine spirituelle Krankheit sind. Dieser Glaube fördert ein pluralistisches Verhalten bei der Gesundheitssuche. Es kann zwar die Inanspruchnahme von Krankenhäusern und Schulmedizin einbeziehen, verlagert aber den Glauben oder die Hoffnung auf Heilung eher in den Bereich des Spirituellen, also in die Hände Gottes oder die Kirche. So begibt sich Giftys Mutter anfangs in eine Klinik, doch Heilung erwartet – und erfährt sie dort nicht. Danach verweigert sie jede Hilfe, liegt nur noch im Bett. Die Tochter macht es sich zur Lebensaufgabe wissenschaftlich zu entschlüsseln, warum ihre Mutter krank geworden ist und wie sie ihr helfen kann. Doch Giftys Versuche, eine naturwissenschaftliche Erklärung und folglich eine Lösung für das Problem der Mutter zu finden, bleiben ohne Erfolg. Stattdessen sieht sich Gifty immer wieder mit dem eigenen verlorenen Glauben konfrontiert. Längst meint sie sich abgeseilt zu haben von der First Assemblies of God Baptistenkirche, die ihre Kindheit überschattet und das Leben der Mutter dominiert hat. Doch am Ende des Romans sitzt sie in einer Kirche, hat sich mit Gott scheinbar versöhnt und versucht „Ordnung zu schaffen, einen Sinn zu finden, eine Bedeutung in dem ganzen Durcheinander“. Mehr kann man als Mensch auch nicht tun.

Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich, 301 Seiten, DuMont Verlag, 2021, ISBN 978-3-8321-8132-1, € 16,99

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Musik

Tutu Puoane begeisterte bei den Hildener Jazztagen

Tutu wer? Auch mir war der Name der Jazz-Sängerin bis zu ihrem Auftritt bei den 25. Hildener Jazztagen am 19. August kein Begriff. Dabei ist die Südafrikanerin seit langem eine der eindringlichsten Stimmen der zeitgenössischen Musikszene in den Benelux-Ländern.

In Pretoria geboren und aufgewachsen, studierte sie später Jazz-Vocals an der University of Cape Town, ehe sie 2002 nach Holland wechselte, um ihre Gesangsausbildung am Königlichen Conservatorium von Den Haag fortzusetzen. In Südafrika war sie zu diesem Zeitpunkt schon bekannt. 2004 gewann sie dort den renommierten Standard Bank Young Artist of the Year Award. Auch bei unseren Nachbarn in den Niederlanden und Belgien ist sie eine feste Größe in der Jazzszene.  Dort tourte sie vor Corona mit ihrem The Joni Mitchell Projekt, mit den einzigartigen Songs und Texten der kanadischen Sängerin, die sie auf eine persönliche Art und Weise interpretierte.

Für Hilden wählte sie nun ganz neue Songs aus. Das Publikum kam in den Genuss noch nicht veröffentlichter Kompositionen der Sängerin, in denen sie Gedichte der südafrikanischen Performance-Künstlerin und Aktivistin Lebogang Mashile vertont.

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